Raus aufs Land!

Wer in diesem Herbst das FAZ-Magazin Frankfurter Allgemeine Quarterly zur Hand nahm, konnte staunen. „Raus aufs Land!“ prangte in fetten Lettern auf dem Umschlag. Und es ging nicht etwa um Ideen für einen Sonntagsausflug oder den nächsten Urlaub. Grundsätzliches war angesagt; „Die Städte werden immer öder. Freiheit, Fortschritt und Lebenslust finden wir nur noch auf den Dörfern.“

Eine steile These nennt man das. Sie belegt einmal mehr, dass sich der Wind dreht. Die Bücher des ttt-Moderators Max Moor über sein brandenburgisches Dorf als „arschlochfreie Zone“ oder Juli Zehs Roman „Unterleuten“ weisen in ähnliche Richtung. Ländlich ist nicht länger synonym mit rückständig, engstirnig, doof und rechts.

Welche Argumente bringen die FAZ-Autoren Niklas Maak, Claudius Seidl und Carolin Wiedemann vor?

Was sie zunächst aufspießen, ist die „durchruralisierte“ Großstadt. „Die City kann, wenn es nach den Stadtplanern geht, garnicht verkehrsberuhigt, vormodern, kleinteilig und dörflich genug aussehen.“ Die Verdörflichung der Stadtzentren sei nicht nur ein ästhetisches sondern auch sozialpolitisches Problem. In Berlin-Mitte, Hamburgs HafenCity oder dem Frankfurter Neuen Römerviertel sei die Bevölkerung größtenteils weiß und sozial homogen – „wenn überhaupt noch eine Bevölkerung da ist“. Den Zentren in der Hand globaler Finanzinvestoren fehle Leben. Viele Besitzer seien an Mieteinnahmen gar nicht interessiert, weil es ihnen darum geht, in unsicheren Zeiten Betongold zu horten. So werde das Wohnen durch reiche Rentner und Touristen geprägt – unter den Augen der Überwachungskameras.

Mit dem niederländischen „Countryside“- Architekten Rem Koolhaas beklagen die Autoren, dass es Hunderte Theorien über die Stadt der Zukunft gibt, aber kaum Ideen darüber, was auf dem Lande passiert. Dabei lebt dort fast die Hälfte der Weltbevölkerung.

Auf dem Lande siedeln sich neben der industrialisierten Landwirtschaft mittlerweile auch die stromfressende Serverfarmen an, die den weltweiten Datenschatz und Datenfluss ermöglichen. Die Autoren zeigen das eindrücklich am Dorf Biere südlich von Magdeburg, wo die Telekom eins der größten Rechenzentren mit gewaltigen Ausmaßen errichtet hat.

Während früher die Städte naserümpfend auf die Provinz schauten und die Dörfler deshalb auf die Stadt schimpften, wollten Städter heute ihren eigenen Acker und sich auf Dorfleben einlassen. Die Digitalisierung ist offenbar der Schlüssel für diese Entwicklung, denn sie macht unabhängig von der Stadt.

Besonders interessiert die Autoren das Ländliche als Brutstätte von (linker) Gesellschaftskritik und neuer sozialer Entwürfe, festgemacht an der französischen Gemeinde Tarnac oder der Genossenschaft Schloss Tempelhof an der Grenze zwischen Baden-Württemberg und Bayern. Solidarisches Miteinander, basisdemokratische Entscheidungen und Ressourcenschonung für die Zukunft der Menschheit sind hier Themen, die mit Hilfe moderner Technik verfolgt werden.

Das Dorf nicht als nostalgischer Rückzugsort, sondern avantgardistisches Zukunftslabor. Aber auch die Autoren sehen eine bunte Mischung von Motiven – neben rückwärtsgewandter Stadtflucht die Suche nach neuen politischen und gesellschaftlichen Entwürfen wie nach ökologisch verantwortlichem entschleunigtem Leben – all das, was „in den totregulierten überkontrollierten Städten“ keinen Entfaltungsraum mehr findet.

Konkreter werden die Visionen in einem Interview mit dem französischen Landschaftsarchitekten und Philosophen Sebastien Marot, der sich auf Ideen der Permakultur stützt. Das Land sei ein besserer Ort als die Stadt, um unsere Lebensbedingungen zu verstehen. Permakultur wolle keine Zeit verschwenden, das herrschende System zu bekämpfen, sondern parallel neue Modelle ins Leben zu rufen. „Wenn nur fünf Prozent der Mittelklasse weltweit begönnen, nachhaltig zu wirtschaften, wenn sie nach lokalen Alternativen des Konsums suchten, würde dies das gesamte existierende Wirtschaftssystem durcheinanderbringen.“ So Marot über seinen „Garten“ als „Raum der Hoffnung“.

Marot ist es auch, der den Ort unserer beunruhigenden gesellschaftlichen Spaltung beschreibt: „Es geht hier um diejenigen, die weder in den Genuss der Landruhe kommen noch zu den erfolgreichen Städtern gehören. Diejenigen, die sich am meisten ausgeschlossen fühlen und es tatsächlich ja auch sind, sind die, die innerhalb der geographischen Stadt und dennoch im übertragenen Sinne in deren Peripherie leben: Mittendrin, auf den Treppen der U-Bahnschächte oder in den Gebäudeeingängen“ sowie im „Niemandsland, das weder Stadt noch Land ist“. Wer denkt da nicht an die Banlieues?

Unser erstaunlicher ist, dass im Leitartikel die wachsende Unwirtlichkeit der Großstädte durch die Fernmigration – der wesentliche urbane Wachstumstreiber – ganz ausgeblendet und gleichzeitig eine ländliche Flüchtlingsansiedlung idealisiert wird. Dabei können wir gerade sehr gut beobachten, was die Migrationssoziologie seit langem weiß: Migranten, die sich sprachlich und kulturell unterscheiden, organisieren sich zunächst in Kolonien zum besseren eigenen Überleben und diese sind in Städten verortet. Wenn außereuropäische Migranten auf dem Lande Fuß fassen, mag die Integration dort im Einzelfall besser gelingen. Generell gelten für die neuen Armutszuwanderer allerdings auch die Hauptargumente der Armutsabwanderung, die ihnen leere Häuser hinterlassen hat: fehlende Mobilität ohne Auto und schlechte Erwerbsbedingungen.

Die verbreiteten Vorbehalte auf dem Lande gegen Armutszuwanderung aus anderen Kulturkreisen hat auch damit zu tun, dass es auf dem Lande nicht die schützende städtische Trennung der sozialen Milieus gibt. Deutsche Konzernchefs konnten sich locker für das Willkommen von Migranten in die Bresche werfen, die ihre Wohnviertel nicht erreichen und denen sie auch nicht die versprochenen Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Auf dem Dorf dagegen führt die Straße zum Herrenhaus mitten durch die Ansiedlungen auch der Hartzler und 600-Euro-Rentnerinnen. Soziale Versprechen und Herausforderungen haben deshalb hier eine andere Verbindlichkeit als in der Anonymität segregierter Städte.

Dieser kritische Einwand unterstreicht letztlich nur, was die Autoren einfordern: Wir brauchen mehr klärende Debatte über die Zukunft ländlicher Räume. Das Konzept der Neuen Ländlichkeit kann dafür einen Rahmen geben, der aber noch viele Fragen offen lässt.

Kontakt: kontakt@dr-wolf-schmidt.de

Autor Dr. Wolf Schmidt berät Stiftungen, ist Sprecher des Landesnetzes der Stiftungen in MV und leitet die „Initiative Neue Ländlichkeit” in der Mecklenburger AnStiftung.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert