Verlagsfest in Tüschow
Der digitale Wandel bringt es mit sich, dass Menschen dort arbeiten können, wo sie leben möchten – und nicht umgekehrt. Ich selbst bin 2010 von Hamburg nach Tüschow im Altkreis Ludwigslust umgezogen. Tüschow ist für mich der schönste Ort der Welt. Ein Paradies am Naturschutzgebiet Schaalelauf, mit totaler Stille und üppigstem Sternenhimmel. Ein winziges Dorf mit 28 Einwohnern und einem schmucken Herrenhaus. Die Internetleistung ist passabel, naja: ausbaufähig. Im Mobilfunknetz ist allerdings noch sehr viel Luft nach oben. Die „Kreativquote“ ist dennoch hoch: 21% der Einwohner arbeiten in kreativen Berufen, selbständig oder als Kleinunternehmer. Mein Mann als Musikjournalist und ich als Kultur-Verlegerin sind zwei davon. Alle Kreativen hier sind Stadtflüchtige. Sie verbinden den Wunsch nach einer (für sie selbst) sinnstiftenden beruflichen Tätigkeit mit einer neuen Idee von Lebensqualität – der Idee, dass der Mensch vielleicht doch in Einklang mit der Natur leben kann anstatt die Ressourcen unseres Planeten dauerhaft zu zerstören.
Die Erkenntnis wächst in Politik und Verwaltung, dass in der kreativen Gestaltung des Wandels in ländlichen Räumen ein riesiges Potenzial liegt. Natürlich sind die Beharrungskräfte in einem Dorf stark: Es gibt auch Bewohner, die sich nach den „guten alten Zeiten“ zurücksehnen. Doch der Wandel ist längst da und lässt sich nicht aufhalten. Also: Wollen wir ihn aktiv gestalten oder lassen wir uns von der digitalen, globalisierten Welt überrollen? Zum Wandel gehört auch, dass wir uns überlegen, was wir bewahren wollen. Was uns etwas „wert“ ist. Und vielleicht ist Beharrungsvermögen manchmal auch ganz gut und das Neue nicht um jeden Preis besser als das Alte?
Alteingesessene und Zugezogene lernen hier viel voneinander. Ich zum Beispiel bewundere die Alt-Tüschowaner für ihre handwerklichen und gärtnerischen Fähigkeiten. Und von uns Kreativen lernen die Alt-Tüschowaner vielleicht, dass Innovationen durchaus ihren Reiz haben, wenn man sie selbst gestalten kann. Es ist extrem spannend zu beobachten, wie produktiv das freundschaftliche Zusammenspiel der heterogen Sozialisierten im engen Radius eines Dorfes wirken kann.
Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass der Staat eine Full-Service-Agentur ist. Das brauchen wir nicht, aber wir brauchen auch keine Bevormundung und schablonenhaft fixierte Entwicklungskonzepte. Die Dorfbewohner in Tüschow sind stolz auf ihre gestalterischen Kompetenzen: Mit vereinter Kraft haben sie nach der Wende eine Brücke über die Schaale gebaut, die lächerlich wenig gekostet hat. Obwohl „unsere“ Brücke sicherlich noch viele Jahrzehnte halten wird, wäre diese Art der bürgerschaftlichen Selbsthilfe heute nicht mehr möglich. Sicherheitsvorschriften, Bauauflagen…
Mein Vorschlag für eine kreative Regionalentwicklung wäre, mehr Freiräume für die Gestaltungskraft der Einwohner zu schaffen und kreative Raumpioniere mehr zu unterstützen. Vorbild für eine neue Art von regionaler Verwaltung ist der Gärtner: Er sorgt für guten Boden und ausreichend Wasser. Aber das Wachsen überlässt er den Pflanzen selbst. Wachstum lässt sich nicht erzwingen. Und Überdüngung führt selten zu nachhaltigem Erfolg. In der Natur gibt es kein ewiges Wachstum, nur ewige Wandlung. Aber wenn wir uns vom Paradigma des ewigen Wachstums endlich verabschieden, können wir das Dorf zu einem Experimentierfeld machen, um herauszufinden, was das Leben lebenswert macht.
Für mich persönlich war der größte „Verlust“ im Dorfleben übrigens nicht, dass man hier nicht asiatisch Essengehen kann oder das nächste Kino weit weg ist. Eine sonnenwarm gepflückte, vollreife Erdbeere hat die Aromen derart optimiert, dass Sterneköche vor Neid erblassen. Und das abendliche künstlerische Lichtspiel im tausendfach variierten Grün und die jahreszeitlich wechselnden Duftkulissen im Garten fluten die Sinne, so dass ich die „reale“ Realität der virtuellen allemal vorziehe. Nein, der größte Verlust war, dass vor drei Jahren die Nachtigall ausblieb, die uns die ersten Frühlinge hier in Tüschow mit ihrem bezaubernden Gesang verwöhnt hat. Die industrielle Landwirtschaft forderte ihren Tribut. In der Stadt hätte man es vielleicht nicht mal bemerkt.
Kontakt: Corinna.hesse@silberfuchs-verlag.de
Autorin Corinna Hesse ist geschäftsführende Gesellschafterin des Silberfuchs-Verlags und setzt sich als Sprecherin der Kreative MV – dem Netzwerk für Kultur- und Kreativwirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern – und Vorstandsmitglied der Kreative Deutschland – des Bundesverbandes für Kultur- und Kreativwirtschaft – in zahlreichen Projekten für die kreative Gestaltung des ländlichen Raums ein.