Seit dem vorigen Sommer schleppt sich ein öffentlich groß angekündigtes Geheimprojekt durch die Bundespolitik: Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Regierungskommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“. Die wenigen substanziellen Angaben, wer daran teilnimmt und worum es geht, hat die Bundesregierung ausgerechnet auf eine AFD Anfrage mit der BT-Drucksache 19/5444 herausgerückt.
Diesen Sommer sollen Ergebnisse vorgelegt werden. Der Gedanke lag nahe, dass VertreterInnen des Ländlichen ihre Ideen, Forderungen und Gesichtspunkte in diesen Prozess einbringen. Dafür konnte aber kein geregeltes Verfahren identifiziert werden.
Ungeachtet fehlender Beteiligungsangebote hat Corinna Hesse (Verlegerin des Silberfuchs-Verlags) von der „Kreative Deutschland“ die Initiative ergriffen, ländliche Forderungen zu gleichwertigen Lebensverhältnissen zu entwickeln. Einige andere Aktive – darunter ich selbst – haben weitere Gedanken beigesteuert. Herausgekommen ist ein Papier, das kein abgeschlossenes Programm darstellt, aber doch einen Denkanstoß und eine Einladung zur Diskussion – gerade auch an die Landwirtschaft und andere Akteure des ländlichen Raums. Deshalb wird die Ausarbeitung im Folgenden komplett dokumentiert
Wolf Schmidt
Bundesverband Kultur- und Kreativwirtschaft e.V. – Kreative Deutschland
Kompetenzteam ländliche Entwicklung
Handlungsempfehlungen für die Kommission gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land aus Sicht der Erfahrungsträger / kreativer Innovatoren in ländlichen Räumen
Nota bene: Mehr als die Hälfte der Einwohner in Deutschland lebt auf dem Land – in Dörfern oder Kleinstädten. Es handelt sich also um die Mehrheit der Bevölkerung, die derzeit strukturell benachteiligt ist.
- Digitalisierung stärken: Die Digitalisierung bietet große Chancen für die ländlichen Räume, da Wirtschaft und Beschäftigung unabhängig von der Größe der Orte entstehen. Voraussetzungen sind flächendeckendes schnelles Internet und Mobilfunknetze sowie ein gesetzliches Recht für das Arbeiten im Homeoffice (vgl. Niederlande). Das würde nicht nur die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse garantieren, sondern gleichzeitig den Verkehrsinfarkt und die Wohnungsnot in den Städten lindern. Lernen könnte Deutschland auch hier vom Silicon Valley: Die Entfernung vom Silicon Valley bis nach San Francisco ist nicht größer als von Boizenburg/MV nach Hamburg.
Dabei müssen Breitbandausbau und Alternativen dazu (z. B. mobile Netze auf LTE-Basis, Satelliten-Lösungen) gleichermaßen in den Blick genommen werden, um den ländlichen Raum nicht länger infrastrukturell abzuhängen. Innovative Lösungen können hier gemeinsam mit der Kreativwirtschaft erarbeitet werden. Die Kultur- und Kreativwirtschaft wird bereits in vielen Regionen als Katalysator und Motor für Innovationen eingesetzt.
2. Wirtschaftsförderung und Unternehmensansiedlung reformieren: Größter Arbeitgeber in ländlichen Räumen ist nicht die Landwirtschaft, sondern sind kleine und mittlere Unternehmen verschiedener Branchen. Die Kleinteiligkeit und Diversität der wirtschaftlichen Akteure in ländlichen Räumen führt zu Resilienz und Stabilität. Die Wirtschaftsförderung sollte diesen kleinteiligen Strukturen angepasst werden. Dabei sollten innovative Unternehmen im Fokus stehen, die neue digitale, kreative, soziale und ökologisch nachhaltige Geschäftsmodelle in den ländlichen Raum bringen. Investitionen in Ideen und Kreativität sind gleichrangig zu Investitionen in Sachwerte zu behandeln. Wirtschaftsförderung und Kulturförderung müssen gemeinsam gedacht werden.
Beispiele:
- Simul+-Wettbewerb in Sachsen https://medienservice.sachsen.de/medien/news/219970
- Landeswettbewerb für kreative Raumpioniere in ländlichen Regionen:https://kreativemv.wordpress.com/landeswettbewerb/
3. Vernetzung stärken: Schlüsselfaktor für Innovationen sind heterogene, branchenübergreifende Netzwerke. Von ihnen gehen – standortunabhängig – die meisten Impulse für Innovationen aus. Da die weiten Distanzen und kleinteiligen Strukturen die Vernetzung in ländlichen Räumen erschweren, sollten Netzwerke und Cluster im ländlichen Raum besonders gefördert werden. Außerdem müssten Netzwerkmanager finanziert werden, die den ländlichen Raum bereisen und beraten. Durch die Förderung nichttechnischer Innovation entwickeln sich vor allem im ländlichen Raum neue Vernetzungs- und Wertschöpfungspotenziale.
4. Der Ansatz, mit zentralisierter Raumordnung ländliche Gebiete zu revitalisieren, ist gescheitert. Erfolgversprechend sind dagegen steuerliche Anreizsysteme, die lokale Basisinitiativen und Wirtschaftskreisläufe in Gang bringen. Dazu gehört die Streichung der KFZ-Steuer für Regionen mit unzureichendem ÖPNV-Angebot, die Streichung der Grunderwerbssteuer in Gemeinden, die unter Wegzug leiden, ein z.B. auf 10 Jahre befristeter Abschlag auf die Einkommenssteuer in strukturschwachen Gebieten, um solvente Zuwanderung zu stärken und die Wiedereinführung der Pendlerpauschale, um Abwanderungsdruck zu reduzieren.
5. Kreative Regionalentwicklung durch Regionalbudgets angemessen honorieren: Bedingt durch Kreisgebietsreformen sind Kommunen und Landkreise notorisch unterfinanziert. Programme für ländliche Entwicklung fokussieren zumeist eine kleine Auswahl befristeter Modellprojekte („Leuchttürme“) – diese geförderten Modellprojekte zeigen zwar in guten Beispielen, wie innovativ Regionalentwicklung sein kann, sie bleiben aber punktuell und befristet und können die langfristige, flächendeckende und nachhaltige Entwicklung nicht ersetzen. Der bürokratische Aufwand einzelner Projektförderungen überschreitet die personellen Kapazitäten vieler kommunaler Projektträger. Kommunen und Landkreise sollten mit ausreichenden Budgets für nachhaltige Regionalentwicklung ausgestattet werden, um gemeinsam mit „Agenten des Wandels“ aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft den Strukturwandel aktiv zu gestalten. Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft („Raumpioniere“ und Innovatoren) treiben schon jetzt den Strukturwandel in ländlichen Räumen aktiv mit kultureller, sozialer und ökonomischer Wertschöpfung voran. Die Potentiale des ländlichen Raums müssen stärker in die Kreativ-Szene kommuniziert werden. Der Anteil ehrenamtlicher und unzureichend vergüteter Leistungen ist jedoch sehr hoch, da die Auftraggeber und kommunalen Partner die Leistungen der kreativen Regionalentwicklung aus Mangel an finanzieller Ausstattung nicht vergüten. Statt Projekt-„Förderung“ sollten Vergütungssysteme für Regionalentwicklungsleistungen festgeschrieben werden, die ökonomische, soziale, kulturelle und ökologische Leistungen erfassen. Vor allem die Startphase von Projekten muss stärker durchfinanziert sein: Beratung zur Organisationsbildung, baurechtliche Beratungen, Finanzierungsberatung.
6. Öffentliche Verkehrsmittel stärken: Die digitalen Nomaden der Zukunft bewegen sich nicht mehr mit einem eigenen PKW. Die Reduktion der öffentlichen Verkehrsmittel in ländlichen Räumen hat daher gravierende Folgen sowohl für Touristen und Gäste als auch für junge Fachkräfte und Familien – nicht erreichbare Räume sind komplett unattraktiv als Siedlungs- und Wirtschaftsräume. Dabei darf nicht nach aktuellem Bedarf geplant werden, der sich an den Entwicklungen der Vergangenheit orientiert. Es müssen mit den Akteuren zusammen innovative Konzepte unter Einbeziehung von Digitalisierung und Shareconomy für die Zukunft entwickelt werden.
7. Nachhaltigkeitskriterien für Subventionen und Steuern: Die überdimensionalen Subventionen in landwirtschaftliche Großbetriebeverzerren nicht nur den internationalen Wettbewerb und verhindern den Marktzugang von Entwicklungsländern (eine wichtige Ursache von Migration), sie schaden auch den regionalen Wirtschaftskreisläufen. Die regionale Produktivität sinkt, weil kleinteilige Wertschöpfungsketten zurückstehen gegenüber Monokulturen auf großen Flächen, die negative Folgen für Boden- und Wasserqualität, Artenvielfalt und Klima haben. Dies schädigt auch andere Wirtschaftszweige wie Tourismus und Kulturveranstalter, da die Attraktivität der Landschaft sinkt. Subventionen müssen an nachhaltige und ressourcenerhaltende Wirtschaftsformen gekoppelt werden, die die Attraktivität der Landschaft in Wert setzen, anstatt sie zu zerstören. Die Flächensubventionen sind bei Betrieben mit mehr als 1.000 Hektar zu deckeln, um nicht zusätzliche Anreize für „Landgrabbing“ zu schaffen. Ökologische Schäden müssen über Steuern durch die Verursacher behoben werden – die Steuern schaffen gleichzeitig einen Anreiz dafür, diese Schäden gar nicht erst entstehen zu lassen.
Die heutigen aktiven Gestalter des ländlichen Raumes sind die Akteure der Kreativwirtschaft, die gemeinsam mit nachhaltig wirtschaftenden, kleinstrukturierten landwirtschaftlichen Betrieben und sozialen Innovatoren nachhaltige gesellschaftliche Kontexte schaffen. Hier müssen gleichermaßen hohe finanzielle Unterstützungen bereitgestellt werden
8. Rentenansprüche für Ehrenamtliche / Unterstützung durch Honorarkräfte im sozialen und kulturellen Bereich: Soziale und kulturelle Projekte, die wesentlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sind, gehen aktuell in ländlichen Räumen sehr stark von ehrenamtlichen Akteuren aus. Gerade in „strukturschwachen“ Gebieten mit finanzschwachen Kommunen werden inzwischen zahlreiche soziale und kulturelle Leistungen komplett von ehrenamtlichen BürgerInnen erbracht. Wenn unentgeltliche Arbeit zunehmend als Ersatz kommunaler Grundversorgung angesehen wird, sollte sie – gleichwertig mit Erwerbsarbeit – im Sinne von „Zeitkonten“ auf die Rente angerechnet werden. Darüber hinaus müssen ehrenamtlich engagierte BürgerInnen durch professionelle Honorarkräfte ergänzt werden, da sonst viele ehrenamtliche Initiativen nicht dauerhaft tragfähig sind. Soziokultur ist nicht nur als kultureller Mehrwert zu verstehen, sondern als Humus für kleinteilige Wirtschaftsentwicklung.
9. Schutz von Naturräumen und gemeinschaftliche Kontrolle von Gemeingütern: Intakte Naturräume und Artenvielfalt sind für den Erhalt der Lebensgrundlagen auf der Erde fundamental. Die BewohnerInnen und tragenden Akteure der ländlichen Räume sind oft sehr sensibel für den Schutz ihrer Lebensräume. Ihnen kann mehr Verantwortung für den Schutz natürlicher Ressourcen übertragen werden. Das bedeutet auch, Entscheidungsgewalt über massive Eingriffe in die Umgebung (Windenergie, Stallanlagen) wieder an die Gemeinden zurückzugeben. Gemeinschaftliche Pflege von Gemeingütern vor Ort hat oft mehr Wirkung als staatliche Kontrolle „aus der Ferne“. Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft legen überdurchschnittlichen Wert auf Nachhaltigkeit, regionale Produktionsketten und umweltfreundliche Lösungen in der Produktherstellung und passen somit gerade im ländlichen Raum gut zu den seit Jahrhunderten gelebten Wertschöpfungsprozessen. Über Förderung von sozialunternehmerisch und gemeinwohl-orientierten Genossenschaften können hier zukunftsweisende Beispiele gemeinschaftlicher Bewirtschaftung entwickelt werden.
Beispiel: https://wirbauenzukunft.de/
10. Schulinfrastruktur und medizinische Versorgung stärken. Unzumutbar lange Schulwege machen ländliche Räume für Familien unattraktiv. Es kann nicht sein, dass sich ländliche Schulversorgung an den Wirtschaftlichkeitsstandards der Städte ausrichten muss. Wo Kinder sind, muss Beschulung gewährleistet werden. Dazu sind auch neue Modelle in Anlehnung an Länder zu suchen, die wie Skandinavien, Baltikum, Australien oder Kanada viel dünnere Besiedlungen erfolgreich beschulen. Für die medizinische Versorgung sind Landambulatorien und Modelle der Telemedizin zu entwickeln. Der Konzentrationsprozess im Krankenhauswesen muss strikt begrenzt werden, um lokale Erreichbarkeit zu gewährleisten. Freie Schulen und Kindergärten sollten unterstützt werden, um Vielfalt im Angebot zu gewährleisten und private Initiative zu fördern.
Autoren / Kompetenzteam ländliche Entwicklung:
- Corinna Hesse, Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Kultur- und Kreativwirtschaft – Kreative Deutschland und Sprecherin Kreative MV Netzwerk für Kultur- und Kreativwirtschaft Mecklenburg-Vorpommern
- Claudia Muntschick, Landesverband der Kultur- und Kreativwirtschaft Sachsen e. V. – Kreatives Sachsen, Beraterin Ostsachsen
- Astrid Köppel, Netzwerkmanagerin, Forum Kreativwirtschaft Fichtelgebirge
- Dr. Wolf Schmidt, Mecklenburger AnStiftung