Die folgenden Gedanken hat der Autor bei der 9. Herrenhäusertagung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 2. Juni 2023 im Gutshaus Niendorf (23996 Niendorf) – siehe Bild – vorgetragen. Die Tagung stand unter dem Titel „Die Zeit der neuen Sachlichkeit? Zur Bedeutung von Herrenhäusern und Gutsanlagen in der Landesentwicklung“
In der kollektiven Biografie des Dorfes gibt es typische gemeinsame Erinnerungsorte. Dazu gehören zum Beispiel die Schule, die landwirtschaftlichen Betriebe in unserer spezifischen Form der Gutswirtschaft, das Gasthaus, die Feuerwehr, die Kirche und auf jeden Fall das Gutshaus/Herrenhaus/Schloss – wo immer es vorhanden war.
Die Beziehung der Dorfbewohner zum Beispiel zur Schule oder Feuerwehr folgt einem einfachen Muster, das sich an Akteuren, Funktionen und damit verbundenen Geschichten orientiert. Die Beziehung zum Herrenhaus ist dagegen vielschichtig und ambivalent.
Zunächst einmal war das Herrenhaus Sitz von Herrschaft. Das galt besonders für die bis 1918 ritterschaftlichen Güter und in modifizierter Form für die herzoglichen „Domanialdörfer“. Zum Herrenhaus bestand für viele, wenn nicht die meisten Dorfbewohner ein mehr oder weniger ausgeprägtes Herr-Knecht-Verhältnis.
Diese patriarchale Beziehung erlebte rechtlich mit der Novemberrevolution 1918 einen fundamentalen Einschnitt. Defacto blieb aber das patriarchale Verhältnis bis zum Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945 im wesentlichen bestehen – auch wenn die Weimarer Republik und der Nationalsozialismus neue Konfliktfelder in der Emanzipation vom Herrenhaus ermöglichten.
Diese personale Beziehung war also vom formellen Ende der Leibeigenschaft 1820 bis 1945 einem erheblichen Wandel unterworfen. Sie hatte aber auch ihre Konstanten
- in landwirtschaftlichen und häuslichen Arbeitsverhältnissen,
- in persönlicher Kenntnis,
- in Miet- und Pachtverhältnissen,
- in kirchengemeindlichen Begegnungen bis hin zu Taufpatenschaften,
- in sehr unterschiedlich gestalteten Hilfsdiensten z. B. bei Ernte, Jagd, Gefahrenabwehr aller Art.
So ergibt sich eine Mischung von Arbeitsverhältnis, Nachbarschaft, politischer Herrschaft und soziokultureller Hegemonie.
Zu den Zumutungen, die für die Dorfbewohner aus dem Herrenhaus kamen, gehörte umgekehrt die Erwartung von Unterstützung, wo immer sie dem Herrenhaus zugetraut werden konnte.
Wir haben es also mit einer sehr intensiven personalen Beziehung zwischen den Bewohnern des Herrenhauses einerseits und den Anwohnern andererseits zu tun, wie sie in der Stadt kaum vorstellbar ist.
Die Bodenreform 1945/46 machte aus dem Hegemon im Herrenhaus den Vogelfreien der antifaschistisch-demokratischen Revolution. Die Herren wurden aus dem Haus gejagt.
Nun tritt an die Stelle der personalen Beziehung zum Herrenhaus eine Nutzungsbeziehung. Notwohnen in einer skurrilen Mischung aus Prunk und primitiven Provisorien, Lazarett, Kinderheim, Kindergarten, Schule, Konsum, LPG-Verwaltung, Altenheim, Jugendklub, Kultur- und Veranstaltungshaus, nicht zuletzt für Dorffeiern, Hochzeiten und Geburtstage.
Unter den Dorfbewohnern bis 1989 wird kaum einer vollkommen ohne solche Nutzungsbeziehung zum Herrenhaus sein – es sei denn, das Haus wurde für spezielle Zwecke von Partei und Staatsführung reserviert und damit auch speziell gepflegt.
Damit es eine vielschichtige Beziehung zwischen Dorf und Herrenhaus wird, brauchen wir mindestens ein drittes Element. Das ist der räumliche Bezug zwischen Dorf und Herrenhaus, also das architektonisch–ästhetische Arrangement zwischen den Häusern der ländlichen Unterklasse, dem Gutshof und dem Herrenhaus. Das ist sehr unterschiedlich für die ritterschaftlichen und die Domanial-Gebiete. Und das gilt so auch nur für Mecklenburg und noch mal anders für das preußische Vorpommern.
In den ritterschaftlich geprägten Dörfern bildet sich nicht selten bis heute das Ergebnis des Bauernlegens vor dem 19. Jahrhundert ab. Im Zuge der kapitalistischen Modernisierung der Gutswirtschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden mehr oder weniger gleichförmige eingeschossige Einfachbauten für kinderreiche Familien mit einem hohen Selbstversorgungsgrad an Lebensmitteln errichtet.
Das architektonisch triste Straßendorf führt typischerweise zur Lindenallee mit Herrenhaus und Gutspark. So austauschbar und ambitionslos die Landarbeiter-Häuser sind, so markant, manchmal exzentrisch, sind die Herrenhäuser positioniert und gestaltet – nicht zu vergessen die Wirtschaftsgebäude mit imposanten Speichern, Ställen, Feldsteinscheunen.
Übrigens meist wohl nicht in der Dorfmitte, sondern eher am Rand.
Abgesehen von der Kirche und möglicherweise dem Pfarrhaus sind die Herrenhäuser sowie dazugehörige Wirtschaftsgebäude häufig immer noch die architektonischen Markenzeichen der Dörfer.
Anders stellt sich das in den domanialen Gebieten der Schweriner und Neustrelitzer Großherzöge dar, wo seit dem 19. Jahrhundert Bauernhöfe entstanden, die eher das typische Bild eines Bauerndorfes im Unterschied zum Landarbeiterdorf schufen.
Die Siedlerhäuser der Nachkriegszeit, die Wohnblocks der DDR und die sozialistischen Einfamilienhäuser haben diese Charakterzüge meist nicht grundlegend geändert.
Der DDR waren die Herrenhäuser ein feudaler Stachel im sozialistischen Fleisch. Einige wurden schon im Zuge der Bodenreform abgebrochen, um Steine für Siedlerhäuser zu gewinnen. Die meisten hat man in der Regel nicht nur ge-, sondern vernutzt. Außerdem wurden typischerweise Nachbarschaften und Sichtachsen mit Heizhäusern, Garagenanlagen und Stallungen verhunzt. Gutsparks verwilderten und wurden mit Datschen und Eigenheimen durchsetzt.
So war dieses Bau-Erbe 1989 bereits heruntergekommen, aber die kapitalistische Privatisierung ruinierte es zunächst noch mehr. Durch die Trennung der Landverkaufs von den Gutshäusern entfiel die traditionelle Verbindung zwischen landwirtschaftlichen Erträgen und Erhaltungsaufwendungen für die Herrenhäuser. Auf diesen bedauerlichen Prozess will ich hier nicht näher eingehen.
Es hat lange gedauert und ist eigentlich ein Wunder, wie viele Herrenhäuser inzwischen wieder restauriert wurden und werden. Hier bei den Thannhäusers in Niendorf finden wir ein eindrucksvolles neues Beispiel.
Wie haben sich die drei Beziehungsschichten zwischen Dorf und Herrenhaus seit 1990 entwickelt?
Die räumlich-ästhetische ist schnell abgehandelt. Die vielen Einfamilienhaus-Neubauten und landwirtschaftlichen Blechhallen, die wir überall finden, haben an der ambitionslosen Beliebigkeit nichts geändert. Gebaute Identität vermittelt neben der Kirche häufig nach wie vor die alte Gutsarchitektur. Dazu habe ich mich an anderer Stelle ausführlicher geäußert.
Die enge Beziehung auf personaler und Nutzungsebene haben manche lokale Initiativen und Kommunen als Eigentumsträger versucht zu erhalten. Früher oder später waren sie meist überfordert. Ausnahmen bestätigen die Regel, so hat die Gemeinde Raben-Steinfeld das herzogliche Schloss erst kürzlich unter ihre Fittiche genommen.
In aller Regel setzen Sanierung und Instandhaltung einen solventen Privateigentümer voraus, der aus sozialhistorischen Gründen häufig aus dem politischen Westen kommt. Dabei besteht grundsätzlich das Risiko, dass alle nennenswerten personalen und Nutzungsbeziehungen zum Dorf verloren gehen. Das gilt insbesondere dann, wenn das Haus zu rein privaten Wohnzwecken genutzt wird und das vielleicht nur als Zweitwohnsitz. Wenn dann noch eine stählerne Einfriedung mit Kamera und Gegensprechanlage hinzukommt, ist das Haus zwar gerettet, aber die soziale Funktion zerstört.
Andererseits ist die Rolle des Patrons in unserer Gesellschaft ausgespielt und man kann sich auch vorstellen, dass jemand, der viel Geld für ein solches Objekt in die Hand nimmt, damit nicht die Rolle eines ruralen Sozialarbeiters erkaufen möchte.
Was sind also Wege, die Erhaltung des Hauses mit einer lebendigen Dorf-Beziehung zu verbinden?
Die gutswirtschaftliche Nutzung gibt es wieder, besonders mit vermögenden Familien, die Landwirtschaft primär im Rahmen von Diversifizierung betreiben. Das ist Ausnahme und ist angesichts des geringen landwirtschaftlichen Arbeitskräftebedarfs von eher geringer Relevanz.
Am einfachsten für die Dorföffentlichkeit erscheint eine gastronomische Funktion mit Restaurant und/oder Hotel. In Küstennähe und an touristischen Hotspots sowie touristischen Transitstrecken ist das eine Option. Aber abseits ist die nötige ganzjährige Bewirtschaftung in der Regel nicht darstellbar.
Deshalb haben sich zahlreiche Hybrid-Formen entwickelt: Veranstaltungslocation mit externem Catering, Übernachten mit Selbstversorgung und vor allem die Kombination von privater Wohnnutzung und Ferienwohnungen, die nicht zuletzt steuerlich interessant ist. Dabei können die Gastgeber-Angebote weit über den bloßen Vermietungsservice hinausgehen. Die Beziehung zum Dorf hängt in diesen Fällen primär von der Aufgeschlossenheit der Besitzer ab.
Projekte wie hochklassiges Seniorenwohnen stoßen in der Regel an Grenzen der örtlichen Infrastruktur und der baulichen Gegebenheiten, zum Beispiel im Blick auf die nötigen Sanitärräume.
Interessanter können moderne Formen von Coworking spaces, workation retreats oder CoLiving sein. Gerade durch die Digitalisierung und die neuen Arbeitsformen infolge von Corona ergeben sich hier Chancen. Ob und welche Art Beziehungen zum Dorf damit verbunden sind, hängt vom Einzelfall ab.
Am ehesten erscheint eine auch für das Dorf öffentliche Funktion mit einer kulturellen Agenda zu harmonieren. Dabei wird es sich in der Regel schon aus ökonomischen Gründen nur um einen Nebenzweck, etwa neben eigener Wohnnutzung, handeln.
Solche Zwecke sind schon ziemlich gut etabliert – etwa als Spielorte der Festspiele MV, mit Tagen des offenen Denkmals und weiteren Besuchertagen, mit kleinen Ausstellungen, Lesungen, Musikveranstaltungen, für Feste und Trauungen. Das kann und muss nicht jedermanns Geschmack auf dem Dorf treffen, zumal die soziokulturelle Zusammensetzung der Dörfer einem schnellen und tiefgreifenden Wandel unterliegt.
Das führt mich zum letzten Gedanken einer öffentlichen kulturellen Nebennutzung: das Herrenhaus als Lernort zwischen alter und neuer Ländlichkeit.
Je mehr Menschen aufs Land ziehen und je weniger die traditionell ansässigen Menschen mit Landwirtschaft zu tun haben, umso wichtiger wird dieser Lernort.
Wir leben in einer Zeit, die Diversität preist, aber immer weniger Alterität, also das soziale und kulturelle Anderssein, versteht. Das Herrenhaus ist ein authentischer Ort, um die uns heute fremde Geschichte des Landlebens, der ländlichen Ökonomie, der ländlichen Sozialordnung und Klassenverhältnisse zu verstehen. Hier kann man Alteritätserfahrungen – Erfahrungen des radikal Anderen -in technischer, ästhetischer, sozialer und kultureller Hinsicht machen.
Dazu braucht es nicht unbedingt museologischen Extraaufwand, schon eine gute Führung kann mehr zum Verstehen beitragen als viele historisch-politische Seminarstunden. Und natürlich gehört zum sogenannten Schloss dann auch die Landarbeiter-Kate als Voraussetzung des Schlosses.
Je mehr Menschen aufs Land ziehen oder ziehen wollen und je fremder sich Stadt und Land werden, umso wichtiger werden solche Angebote, die das Neue den neuen Ländlichkeit im Unterschied zum alten Landleben kognitiv vermitteln und am authentischen Ort wenigstens erahnbar machen.
Es gilt Wege zu finden, wie sich ein solcher Lernort qualitativ anspruchsvoll und in finanziell hilfreichen gemeinnützigen Strukturen realisieren lässt, damit sich die Beziehungen zwischen Herrenhaus und Dorf zeitgemäß weiterentwickeln.
Autor Dr. Wolf Schmidt ist Gründer und Stiftungsratsvorsitzender der Mecklenburger AnStiftung. Er leitet die „Initiative Neue Ländlichkeit” in der Stiftung. Autor von „Luxus Landleben – Neue Ländlichkeit am Beispiel Mecklenburgs“
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