Vortrag beim „Forum Ländliche Entwicklung und Demografie“ am 4.10.2017 in Torgelow
Welche Rolle kann Kultur für die Zukunft ländlicher Räume spielen? Auf der Basis meines Buches „Luxus Landleben – Neue Ländlichkeit am Beispiel Mecklenburgs“ möchte ich dazu einige Gedanken einbringen.
Zunächst: Was ist neue und was ist alte Ländlichkeit?
In der alten Ländlichkeit prägte Landwirtschaft das Leben der Menschen auf dem Lande. Die Gesellschaft der alten Ländlichkeit war gekennzeichnet durch harte körperliche Arbeit, ausgeprägte Klassengegensätze und zivilisatorische Rückständigkeit gegenüber der Stadt.
Heute, in der neuen Ländlichkeit, ist die Landschaft weiter durch agrarische Nutzung geformt. Aber die industrialisierte Landwirtschaft hat sich von der ländlichen Gesellschaft abgekoppelt. In ganz MV arbeiten noch 16.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft zusammen. Ein Prozent unserer Bevölkerung, das ist kaum mehr relevant.
Landwirtschaft braucht immer weniger Arbeitskräfte und besonders weniger Muskelarbeit. Muskelarbeit wandert in den Freizeitbereich ab – ob nun Hobbygarten, Fitnessstudio oder Sport.
Menschen, die in der Landwirtschaft gearbeitet haben, sind weggezogen, langzeitarbeitslos, in Rente oder haben sich eine völlig neue Existenz auf dem Lande aufgebaut. Mit einer neuen Generation wird die noch bestehende mentale Bindung an Landwirtschaft weiter abnehmen.
Deshalb heißt die Aufgabe: Wir müssen das Land als Siedlungsraum neu erfinden. Oder besser gesagt: Wir müssen analysieren, welche neuen Trends sich dort bereits abzeichnen.
Ländliche Räume haben eine Chance, wenn sie Kopfarbeiter sowie Selbstverwirklicher ohne Erwerbsdruck anziehen. Das gelingt durch die digitale Revolution, die den zivilisatorischen Rückstand gegenüber der Stadt aufhebt. Eine Revolution, die Verfügung über Wissen, gesellschaftliche Partizipation, Kontakte und Netzwerke, Bildung und medizinische Versorgung und nicht zuletzt Erwerbsarbeit tendenziell standortunabhängig macht.
Einen Hinweis auf die Zukunft gibt unsere Wanderungsstatistik. Seit 1990 haben wir – bei damals 1,9 Millionen Bewohnerinnen und Bewohnern – über 900.000 Wegzüge zu verzeichnen -aber auch 750.000 Zuzüge!. Wenn wir heute noch 1,6 Millionen Einwohner haben, verdanken wir das der Zuwanderung. MV ist ein erfolgreiches Zuwanderungsland! Seit drei Jahren haben wir einen Netto-Wanderungsgewinn – und zwar auch ohne die Flüchtlinge. Dabei sind die hier besonders wichtigen Zweitwohnsitze noch gar nicht mitgezählt.
Leider fehlen uns Bildungs- und Sozialdaten über Abgewanderte und Zugewanderte, und es fehlen solche Daten ganz speziell für ländliche Räume abseits der Küste. Aber wer Augen und Ohren öffnet, stellt fest: Auch in jedem Dorf sind Zuwanderer aus allen Teilen Deutschlands – seltener aus dem Ausland -angekommen. Viele von ihnen kommen wegen billiger Immobilien und hoher Lebensqualität. Viele bringen Bildung und finanzielle Reserven mit. Das ist unsere Chance!
Was hat das mit Kultur zu tun? Kunst und Kultur auf dem Lande sind entscheidende Indikatoren für neue Ländlichkeit. Dabei geht es nicht um Menschenmassen sondern Magnetwirkung. Kultur ist in dem Zusammenhang ein Kürzel für 3 „K-Gruppen“, die symbiotisch auftreten:
1. Kultur-Genießer und Kultur-Aktivisten,
2. Künstlerinnen und Künstler einschließlich Kunsthandwerk
3. Kreative – vom Architekten über IT-Experten bis zu einer breiten Palette hochspezialisierter Dienstleistungen und Handwerke
Dazu 8 Thesen.
1. Trend aufs Land
Alle reden vom Urbanisierungstrend, aber gleichzeitig gibt es eine Gegenbewegung. Gerade in der Kultur haben viele die Nase voll von der Stadt – besonders von den Metropolen mit hohen Wohnkosten und Stadt-Stress. Sie wollen sich im wahrsten Sinne neu erden. Sie helfen damit einen Trend zu setzen, der mit der Chiffre Landlust angedeutet ist.
2. Kultur als Lebensqualität
Kulturaktivitäten – nehmen Sie nur die vielen Veranstaltungen der Festspiele – ebenso wie künstlerisches und kunsthandwerkliches Schaffen in den Dörfern und kleinen Städtchen bewirken ein neues Lebensgefühl. Es verbindet sich der Genuss von Natur und Kultur. Kultur ist nicht länger ein Privileg der Stadt, sondern ist auf dem Lande häufig näher und elementarer zu erleben.
3. Kultur und lokale Ökonomie
Die drei K-Gruppen können mit strukturschwachen ländlichen Räumen am besten umgehen. In der Regel suchen sie keinen Arbeitgeber, sondern sind selbstständig tätig und erwarten ihre Kundschaft nicht primär vor Ort. Umgekehrt geben Sie durch Nachfrage neue Impulse für lokale Wirtschaftskreisläufe.
4. Testimonials von Lebensqualität
Die K-Gruppen ziehen andere nach. Sie wirken als Testimonials nicht nur für die ökologische sondern gerade auch die soziale Qualität des Landlebens. Wo sie sich niederlassen, weiß jeder andere: Hier gibt es eine gewisse Akzeptanz/Toleranz für Nonkonformismus, für ungewöhnliche Lebensentwürfe und Lebensstile. Sie bezeugen mit ihrem Dasein eine Liberalität ländlicher Gesellschaft – im Gegensatz zum Klischee, das Dorf mit engstirnigem Konformitätsdruck verbindet.
5. Aufwertung von Immobilien
Die drei K-Gruppen nehmen sich häufig maroder Immobilien an, die markant und identitätsstiftend für den Ort sind – Immobilien, die Fantasie, Nerven und Mittel der Einheimischen vielfach überfordern.
Sie steigern damit – ähnlich städtischen Gentrifizierungsprozessen – die ästhetische und soziale Attraktivität der Orte.
6. Öffentlichkeit und Gemeinschaft
Wo traditionelle ländliche Öffentlichkeit mit kollektiver Arbeit, Kneipe und Kirche einen Niedergang erlebt hat, werden Kulturveranstaltungen und künstlerische Aktionen zu neuen Kristallisationspunkten von ländlicher Zusammengehörigkeit.
7. Bürgerengagement
Es sind – wie überall – gerade die Zugewanderten, die Bürgerengagement beflügeln, weil sie einen frischen Blick auf Probleme und Potenziale des neuen Standorts haben und weil sie nicht in individualistischer Isolation versauern wollen. Bürgerengagement ist ein – wenn nicht der – Weg zu Integration und Verwurzelung. Zugewanderte entwickeln häufig auch neue Ideen, wie ländlichen Anliegen politisch Gehör verschafft werden kann.
8. Identität
Es sind nicht zuletzt die Kultur-Aktiven, Künstlerinnen, Künstler und Kreativen, die einen Sinn für Identitätsfragen haben. Nicht selten gehen sie der Geschichte und den Traditionen alter Ländlichkeit nach. Sie machen Sinn-Angebote, warum und wie wir heute auf dem Lande leben können oder gar sollen. Sie haben Ideen für Gemeinschaft auf dem Lande, die uns voranbringen und uns eine optimistische Vision für ländliches Leben geben können. Und nicht zuletzt können kulturelle Leistungen auf dem Lande zu einer Quelle von Heimatstolz werden.
Kultur verdient deshalb eine viel größere Beachtung, wenn es um Zukunftsstrategien für ländliche Räume geht.
Kontakt: kontakt@dr-wolf-schmidt.de
Autor Dr. Wolf Schmidt berät Stiftungen, ist Sprecher des Landesnetzes der Stiftungen in MV und leitet die „Initiative Neue Ländlichkeit” in der Mecklenburger AnStiftung.