Fragen des Landlebens werden wissenschaftlich und politisch immer noch in nationalstaatlicher Engführung verhandelt. Da verdient ein Buch Aufmerksamkeit, das unter dem programmatischen Titel “Kritische Landforschung” mit internationalem Blick “Konzeptionelle Zugänge, empirische Problemlagen und politische Perspektiven” referiert (Transcript Verlag Bielefeld, 2021, 148 S., 19,50 €) . Kritisch steht dabei für eine gesellschaftspolitische Orientierung, die vor allem im angelsächsischen Raum mit dem Begriff “progressive” assoziiert wird und damit nicht deckungsgleich mit der hiesigen Linken sozialdemokratischer oder kommunistischer Provenienz ist.
Interesseleitend für das Werk von Lisa Maschke, Michael Mießner und Matthias Naumann ist die Beobachtung, dass in Deutschland stadtpolitische Fragen seit den 2000er Jahren im Fokus sozialer Bewegungen stehen – Stichworte: Mietenpolitik, Gentrifizierungsprozesse, Streit um öffentliche Räume und Privatisierungen von Infrastruktur. All dies wird durch eine kritische Stadtforschung begleitet und befeuert. Eine kritische Land-Forschung steht dagegen noch ganz am Anfang – ebenso wie ländliche soziale Bewegungen, jedenfalls mit linker Duftmarke.
Die drei Autoren aus dem Gebiet der Geographie mit Sitz in Frankfurt und Klagenfurt wollen diese Lücke unter starkem Rückgriff auf die angloamerikanische Rural Geography vielleicht eher bewusst machen als schließen. Herausragender Bezugspunkt ist dabei der französische Soziologe Henri Lefebvre, der 1968 mit “Le droit a la ville” (Recht auf Stadt) langwirkende wissenschaftliche und politische Debatten zur Mitbestimmung bei der Stadtentwicklung angestoßen hat. Wenn sich dieses Programm aktuell gegen die Neoliberalisierung der Städte richtet, postulieren die Autoren, dass auch das Ländliche von Abwanderungen, Migration und technischem Wandel unter Zeichen des Neoliberalismus betroffen ist. “Die Forderung nach mehr Mitbestimmung und mehr Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebensumfelds ist daher für ländliche Räume ebenso relevant wie für Städte.” (S. 121) Die städtische Demokratisierung könne sogar in Widerspruch zur ländlichen geraten, wenn urbane Bevölkerungen über nicht-urbane entscheiden.
Der Literaturbericht, um einen solchen handelt es sich im wesentlichen, bewegt sich auf drei Ebenen: Konzepte von Landforschung, diverse Einzelaspekte und alternative Entwicklungsstrategien für ländliche Räume. Zu den Konzepten gehört eine marxistisch inspirierte politische Ökonomie kapitalistischer Landentwicklung, die politische Ökologie als Analyse von Natur und Gesellschaft und die Analyse von Ländlichkeitsdiskursen in Anlehnung an den französischen Soziologen Michel Foucault.
Die Einzelthemen gliedern sich in die Felder ländliche Ökonomien, Mensch-Umwelt-Beziehungen in ländlichen Kontexten, Machtverhältnisse in ländlichen Räumen und – am umfangreichsten – sozialer Wandel in ländlichen Räumen (S. 21). Gerade dieses letzte Feld ist sehr stark von den angelsächsischen akademischen Moden mit dem Fokus auf Rassismus, “weiße Orte”, Gender und Sexualität, Migration und Mobilität geprägt. Da spielen auch amerikanische Spezifika rund um Sklaverei und Kolonialismus eine Rolle, die für unsere Verhältnisse kaum relevant sind. Wir haben weder eine Verdrängung von indigener Bevölkerung noch eine Tradition schwarzer Kleinbauern. Andererseits lassen sich für Bewegungen, welche unter dem Begriff des autoritären Populismus eingeordnet werden, offensichtliche Parallelen etwa zwischen Trumpisten, Brexiteers und AFD finden.
Als Alternativen werden z. B. lokale Selbstorganisation, Aussteiger-Kleinbauern oder Revitalisierung von Allmende (“Commons”) diskutiert. Am Beispiel eines neuen libertären Munizipalismus als radikal basisdemokratische Selbstorganisation mit Volksversammlungen und Unternehmen in Gemeindebesitz lässt sich zeigen, wie solche Ansätze teilweise offen für gegensätzliche Ziele von Anarcho-Libertären, Rechtspopulisten und heutigen Neoliberalen sind.
Das Buch stellt alles andere als leichte Kost bereit. Gelegentlich verschwimmt, was lediglich Referat fremder Positionen und was auch Überzeugung der Autoren ist. So beschleicht einen hin und wieder der Verdacht, dass der Realitätsbezug zum hiesigen Landleben verloren geht. Im Fazit ab Seite 132 wird dies dann wieder auf die Füße gestellt. Stichworte: z. B. Infrastruktur, Investitionspolitik, Altersarmut, gleichwertige Lebensverhältnisse.
Selbstkritisch zu lesen ist der Hinweis: “Allerdings muss sich kritische Forschung auch daran messen lassen, ob sie ihrem Anspruch, zu einer Veränderung bestehender Verhältnisse beizutragen, tatsächlich gerecht wird. So weist Blomley (2006) darauf hin, dass Arbeiten, die sich der kritischen Geographie zuordnen lassen, häufig eine präzise Analyse der Herrschaftsverhältnisse leisten, es am Ende dann aber bei einem frommen Appell, progressive Alternativen zu entwickeln, belassen, ohne diese zu spezifizieren.“ (S. 124)
Einer der Autoren, Michael Mießner hat auch bei uns in der Online-Reihe “Revolution des Landlebens” zum Thema “Progressiver Ruralismus” vorgetragen. Den Vortrag findet man hier, die schriftlichen Unterlagen hier.
Verwiesen sei auch auf eine Studie “Gleichwertige Lebensverhältnisse? Zur Entwicklung ländlicher Räume in Hessen”, an der Mießner und Naumann mitgearbeitet haben.
Bei allen Einwänden, die hier anklingen, bleibt doch festzuhalten, dass die Autoren zahlreiche wichtige Denkanstöße geben, die helfen können, Positionen zwischen der herrschenden antiländlichen Politik und den populistischen Gegenpositionen zu entwickeln.