Einige Überlegungen nach einer Landpartie
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise sagte die Bundeskanzlerin einen seit dem viel zitierten und viel kritisierten Satz: „Wir schaffen das“. Genau dieser Satz charakterisiert diejenigen Menschen, die sich im Gegenstrom zum demographischen Mainstream in die neuen Bundesländer aufgemacht haben und dort auf dem Lande Wurzeln schlagen wollen. Bevor sie dies können, müssen sie viel alten Schutt beseitigen – im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Es scheint kaum ein altes Haus zu geben, in das nicht der Schwamm eingezogen ist. Entweder schon zu DDR-Zeiten oder in der oft langen Zeit danach, als die Häuser leer standen und nochmals Schaden nahmen. Kaum ein Projekt, in dem zu den bekannten Herausforderungen nicht noch unangenehme Überraschungen hinzukamen. Jemand schildert den Moment, in dem ein Hausrestaurierer endgültig aufgab: Gerade dort, wo eben noch seine Frau gesessen hatte, krachte die Decke herunter.
Es reicht nicht, Pionier zu sein. Es gehört eine große Portion Resilienz dazu, also die Fähigkeit, nach Niederschlägen wieder aufzustehen und weiter zu machen. Nur wenn sich Verzweiflung, Zorn und Fassungslosigkeit nicht dauerhaft eingraben, besteht Aussicht auf Erfolg. Zwei Dinge kommen hinzu. Wer auf das Land zieht, muss es wirklich wollen. Halbherzigkeit reicht nicht. Und zweitens: Wem praktisches Arbeiten nicht wirkliche Freude bereitet, wem es nicht etwas bedeutet, selber am Ort zu sein und praktisch tätig zu sein, der muss richtig viel Geld haben und wird vielleicht trotzdem scheitern. Der Weg ist schon ein Teil des Zieles, nicht erst die Erreichung.
Pioniere sind wie die Hefe im Kuchen. Sie setzen enorm viel in Gang. Ihre Bedeutung geht weit über das konkrete Projekt hinaus. Sie können anstecken. Allerdings ist dies nicht automatisch gegeben. Das nachbarliche Umfeld kann sich, wenn der Abstand zwischen Elan und Resignation nicht überwunden werden kann, sogar in Neid und Selbstmitleid versteifen.
Entscheidend kommt es darauf an, ob der Schwung der Pioniere in das nahe Umfeld weitergetragen wird. Hier spielen die staatlichen Stellen eine wichtige Rolle.
An dieser Stelle bietet sich ein zweites Zitat der Kanzlerin an, wiederum im Zusammenhang mit der Bewältigung der Flüchtlingskrise gesagt, aber weit darüber hinaus von Bedeutung. „Deutsche Gründlichkeit ist super“, sagte die Bundeskanzlerin bei ihrer Sommer-Pressekonferenz Ende August 2015 in Berlin. Um die Probleme angehen zu können, sei jetzt allerdings „deutsche Flexibilität“ nötig.
Hört man die Berichte der Pioniere, hat man den Eindruck, dass diese Aufforderung der Kanzlerin die Ämter weitgehend nicht erreicht hat. Ein Beispiel unter vielen: Der Brandschutz fordert eine zweite Treppe, das Denkmalamt ist strikt dagegen. Der Betroffene ist in seinem Handeln stillgelegt. Es fehlt eine eigentlich einfache Regel, wonach ein Antrag nach einer festgelegten Frist als genehmigt gilt, wenn die zuständigen Ämter bis zu diesem Zeitpunkt nicht entschieden haben. Eine solche Regel würde Ämter, die gegeneinander arbeiten, in den Kompromiss zwingen. Allerdings nur dann, wenn diejenigen, die nicht entscheiden, dafür persönlich zur Rechenschaft gezogen würden.
Hilfreich wäre auch die Verständigung auf eine Vision in einem Bundesland, in einem Landkreis, in einer Kommune. Hier wäre eine Verbindung der beiden Merkel-Worte angebracht: Wir wollen das, was wir uns vorgenommen haben, schaffen, wir bringen dazu die notwendige Flexibilität auf. Natürlich hat eine solche Flexibilität wünschenswerte Grenzen. Die viel geforderte Vergrößerung der Entscheidungsspielräume von Ämtern hat nämlich auch eine problematische Seite. Und die heißt Korruption und Vetternwirtschaft. Das muss man sehen.
Flexibilität heißt aber auch, Vorschriften und Gesetze, die sich als überholte und unerwünschte Bremsklötze erwiesen haben, endlich abzuschaffen. Wenn zum Beispiel der Staat ein Renovierungsprojekt fördert, kann er mit der Auszahlung der zugesagten Gelder nicht erst beginnen, wenn er, natürlich in aller Gemütsruhe, den Erfolg überprüft hat. Denn so lange warten die Handwerker nicht. Und wo soll die Zwischenfinanzierung herkommen? Und falls sie gelingt, wer übernimmt die Zinsen? In Mecklenburg-Vorpommern scheint dies ein Problem zu sein, in anderen Bundesländern nicht. Also kann es geändert werden.
Ein anderes Beispiel: Eine Kirchengemeinde, eine richtige Pioniergemeinde auf dem Land, beschließt, den zunächst übergangsweise aufgestellten modernen Altar stehen zu lassen, weil dadurch die freigelegten Wandbilder in der Apsis deutlicher hervortreten. Auch für den bisherigen Altar hat man sich innerhalb der Kirche eine Lösung ausgedacht. Da trifft nach anderthalbjährigem Schweigen in dieser Sache ein Schreiben der oberen Denkmalbehörde ein, in dem gefordert wird, den bisherigen Altar wieder an die alte Stelle zu rücken. Da gehöre er doch schließlich hin. Das Beispiel steht für zwei Ärgerlichkeiten. Erstens für die schier unglaubliche Arroganz mancher Amtsinhaber, die aus dem Umstand, dass der Staat sich an den Kosten eines gesellschaftlich erwünschten Projekts beteiligt, Weisungshoheit beansprucht und Meinungsbildung der Betroffenen meint ignorieren zu können. Die zweite Ärgerlichkeit ist die Nichtanerkennung der Spurensetzung durch die jetzt Verantwortlichen. Natürlich ist es gut und wichtig, wenn es einen mächtigen Advokaten für die Bewahrung gibt. Aber ohne Fortentwicklung in der Bewahrung – und hier ist die ästhetische Komponente gemeint und nicht ausschließlich die Einhaltung neuer Brandschutz- und sonstiger Vorschriften – herrscht Willkür für das ewig Gestrige.
Die eigentliche Leistung der Pioniere geht weit über das hinaus, für was sie konkret stehen. Sie schaffen nämlich Oasen der Hoffnung. Es ist die gewiss nicht leichte Aufgabe des Staates, diese Oasen zu kräftigen und gleichzeitig zu verknüpfen.
Eine Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung aus 2017 über das Emsland mit dem schönen Titel „Von Kirchtürmen und Netzwerken – wie engagierte Bürger das Emsland voranbringen“ sollte Pflichtlektüre für alle Entscheider in Mecklenburg-Vorpommern werden. Daraus ein Zitat: „Es aus eigener Kraft schaffen zu können, scheint in der emsländischen Mentalität ein stark verwurzelter Gedanke zu sein.“ Wodurch entsteht ein solches positives Selbstbild? Es gibt verschiedene Komponenten. Aber eine ganz entscheidende ist das positive Zusammenspiel aller Beteiligten auf der Ebene der Dorfgemeinschaft, der Ebene der kommunalen Institutionen und der Ebene der regionalen Akteure. Zitat: „Die Ehrenamtlichen in den betrachteten Dörfern agieren… nicht im luftleeren Raum. Sie engagieren sich häufig in mehreren Gruppen, finden Mitstreiter und Unterstützung in den Bekanntenkreisen, in Kirche, Politik und der lokalen Wirtschaft. Diese engen sozialen Verbindungen sorgen dafür, dass ehrenamtliche Ideen leichter vorankommen.“
Der Text über das Emsland verdeutlicht, dass hier über einen langen Zeitraum hinweg etwas Wichtiges gewachsen ist, das sich bis heute auszahlt. Genau dies sollte auch der Weg von Mecklenburg-Vorpommern sein: die Pioniere als Vorhut, unterstützt von der ländlichen Zivilgesellschaft und bis ins Detail gefördert von Amts wegen.
Kontakt: henningvonvieregge@gmail.com
Autor Dr. Henning von Vieregge ist Publizist (u.a. Neustart mit 60, Anstiftung zum dynamischen Ruhestand, Wiesbaden 2016) , Referent und Blogger (www.vonvieregge.de). Der studierte Sozialwissenschaftler war Hauptgeschäftsführer Gesamtverband Kommunikationsagenturen GWA und ehrenamtlich vielfach tätig (Aktion Gemeinsinn, Stiftung Mitarbeit, ev. Kirche).