Von der alten zur Neuen Ländlichkeit: Eine Kulturrevolution

Eröffnungsvortrag zur Tagung „Projekt Landleben: Kultur, Politik und Alltagspraxis ländlicher Lebensmodelle“ in der Europäischen Akademie Waren am 31. Januar 2020

Wenn die Stadt über das Land redet, dann meist in den Extremen von Kitsch oder Desaster, braunem Bullerbü oder grünem Paradies. Wir wollen tiefer loten und differenzierter hinschauen. Das beginnt mit den fundamentalen Änderungen ländlichen Lebens über ein Jahrhundert.

Die Kulturrevolution von der alten zur Neuen Ländlichkeit sehe ich auf mehreren Feldern. Dazu gehören die Verkehrsrevolution, die digitale Revolution, die neue Wertschätzung von Natur und der Landgang von Kultur. Aber zuallererst müssen wir den Bedeutungswandel der Landwirtschaft verstehen. Was ist da passiert?

Aus den vergangenen Wochen haben wir die Bilder mit den Grünen Kreuzen, den Mahnfeuern und den Trecker-Demos vor Augen. Das war imposant. Ein lange schlafender Riese schien sich zu erheben. Und er mahnt uns: Die Landwirtschaft ernährt euch alle!

Das mit der Ernährung stimmt. Wir unterschätzen heute den Wert des Sattwerdens. Meine Generation – Jahrgang 1952 – ist die erste, die keine Hunger-Erfahrung gemacht hat. Die letzte große Hungersnot hatten wir 1946/47. Damals fuhren Städter aufs Land, um Pelzmäntel, Silberbesteck und Perserteppiche beim Bauern gegen Kartoffeln, Speck und Schmalz einzutauschen. Da war Landwirtschaft noch ein Riese. Heute ist sie – rein ökonomisch betrachtet! – ein Zwerg.

Die gesamte deutsche Landwirtschaft macht – jeweils nach jüngsten Zahlen – einen Jahresumsatz von 38 Milliarden Euro (plus 6,6 Mrd. Agrarsubventionen). Das ist etwas weniger als allein der Bayer-Konzern umsetzt. Apple erzielt mit seinen nützlichen Spielzeugen 240 Milliarden € Umsatz. Apple hat nach Abzug aller Schulden fast 100 Milliarden Euro netto Barreserven – Geld, für das die Firma keine Verwendung findet.

Als ich 1952 geboren wurde, arbeitete einer von vier Beschäftigten in der Landwirtschaft. Heute ist es einer von hundert. In MV mit seinen 1,6 Mio. Einwohnern sind noch 16.000 Menschen sozialversicherungspflichtig in Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft tätig.

Abwertung von Landwirtschaft

Die Abwertung von Landwirtschaft können Sie am Eierpreis sehen. 1952 kostete ein Ei 25 Pfennige. Heute kostet es bei Aldi 12,9 Cent, also Preisstabilität über fast 70 Jahre. Aber der Wert ist verfallen. 1952 nämlich musste ein Arbeiter für ein Ei circa 15 bis 20 Minuten arbeiten. Heute hat er fast jede halbe Minute ein Ei verdient.

Wir erleben eine kapitalistische Erfolgsstory, die wie immer ihre Schattenseiten hat.

Am Anfang war der Bauernhof, wie er heute noch in allen Werbebildern und Kinderbücher dargestellt wird: ein großer Garten, Äcker, Weiden, ein bisschen Wald und – am schönsten – ein kleiner Zoo mit Hühnern und Schweinen, Gänsen und Kühen und vielleicht noch ein Pferd. Das ist Selbstversorger-Wirtschaft, die ihre Überschüsse auf den Markt bringt – ein Modell von vorgestern.

Der kapitalistische Fortschritt verlangt Produktivitätsmaximierung – und zwar nicht für die Speisekammer, sondern den Markt und das Konto: d.h. Konzentration auf möglichst wenig Produkte, ob nun Hühner, Kartoffeln oder Äpfel – und dafür der modernste Maschinenpark, möglichst große saubere Anlagen, die neuesten Produkte aus der Chemie und Berücksichtigung der jüngsten Forschungsergebnisse. Ein solcher Hof produziert nur noch für Großabnehmer. Eine Speisekammer mit eigenen Erzeugnissen werden wir dort kaum mehr finden.

So kommt es, dass heute 617.000 Menschen (ohne Saisonarbeiter) in der Landwirtschaft mehr produzieren als 7,8 Millionen 1946. Reich sind die Landwirte dabei nicht geworden, denn dem Produktivitätsgewinn steht ein Verfall der realen Preise gegenüber – siehe das Beispiel der Eier.

Und der Produktivitätsgewinn bleibt nicht ohne Schäden an der Natur. Diese Naturabnutzung trifft auf wachsende gesellschaftliche Kritik – vor allem in der Stadt. Das gibt den Rahmen für den gegenwärtigen Konflikt zwischen regierender Agrarwende und der Bewegung „Land schafft Verbindung“.

Gesellschaftliche Verzwergung der Landwirtschaft

Die gesellschaftliche Verzwergung der Landwirtschaft ist nicht auf den ersten Blick erkennbar. Wer – aus der Stadt kommend – den ländlichen Raum mit dem Auto durchfährt, sieht eine von Landwirtschaft geprägte Landschaft: mit immer größeren Feldern, immer weniger Wiesen und noch weniger Weiden und mal mehr, mal weniger Wald. Deshalb fragen mich Hamburger und Berliner Bekannte, wie mein Zusammenleben mit den Bauern klappt. Wenn ich dann berichte, dass unter den über 200 Einwohnern meines Dorfs ungefähr eine Handvoll Landwirtschaft betreibt, ist das Erstaunen groß. Unsere ländliche Gesellschaft ist längst nicht mehr agrarisch.

„Längst“ ist allerdings zu differenzieren. In Westdeutschland setzt der allmähliche Abbau landwirtschaftlicher Arbeitsplätze in den 1950er Jahren ein. An vielen Orten vollzieht sich ein langsamer privatwirtschaftlicher Wandel von Agrar- zu Gewerbedörfern, Dort eröffnet z.B. der Sohn, der den Hof nicht erbt oder ihn verkauft, einen Handwerksbetrieb und daraus wird irgendwann ein Produktionsunternehmen oder heute entstehen Dienstleister.

Bei uns mit der Tradition der ostelbischen Gutswirtschaft haben wir statt vieler Bauern Landarbeiter der Gutsbesitzer und nach dem Krieg v.a. landlose Vertriebene aus dem ehemals deutschen Osten. Aus ihnen werden über den Umweg der Bodenreform sozialistische Landarbeiter in lokalen Monopolbetrieben.

Anstelle des evolutionären gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses in westdeutschen Dörfern findet hier 1990 ein revolutionärer Umbruch statt. Im Osten verlieren innerhalb von weniger als vier Jahren 740.000 von 920.000 Agrar-Beschäftigten ihren Job. In MV 120.000 von 190.000.

Schlachttiere finden plötzlich auch für Schleuderpreise keine Abnehmer mehr. Die Landbewohner, die auf ihrem kleinen Privatland zu DDR-Zeiten mit gutem Gewinn Obst und Gemüse anbauten, Kaninchen, Bienen oder Geflügel hielten, verlieren staatlichen Ankauf und private Kunden. Es lohnt sich nichts mehr. Andere Jobs auf dem Lande gibt es nicht. Und wenn dann auch noch Kneipe und Konsum, der nahe Bahnhof, Kultur- und Freizeitangebote dicht machen, geht die Lebensqualität dahin. Für die meisten ist das eine bittere Zeit von Existenzverlust und schmerzhafter Neuorientierung bzw Abschiebung in die Wartesäle von ABM und Frührente.

Das ist der Moment, wo ländliche Abwanderung, die es schon wegen der hohen Kinderzahl immer gab, in Landflucht umschlägt – am besten gleich in den Westen.

Die neuen – wenigen – Besitzer der großen Ländereien bilden eine bunte Mischung:
• clevere frühere LPG-Vorsitzende
• westdeutsche Nachfahren ehemaliger Gutsbesitzer auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln,
• unseriöse Abenteurer und spinnerte Idealisten
• und vor allem knallharten Geschäftsleute.

Dem über Jahrhunderte gewachsenen Sozialgefüge westdeutscher Dörfer steht hier bei uns eine ländliche Gesellschaft gegenüber, die mehrfach durch den Schredder der Geschichte gehäckselt wurde. Was für eine Herausforderung, daraus ein funktionierendes Gemeinwesen werden zu lassen… Aber das Fehlen einer überkommenden Sozialordnung – wozu auch meist eine Hackordnung gehört – war und ist letztlich auch eine Chance für Zuwanderer, einen guten Platz zu ergattern.

Die Reduzierung des Arbeitskräftebedarfs in der Landwirtschaft um mehr als 90% innerhalb eines Menschenalters hat dramatische Konsequenzen für die ländliche Bevölkerungsstruktur. Früher war die übergroße Mehrheit der Landbevölkerung entweder direkt in der Landwirtschaft oder in damit verbundenen Gewerben tätig. Wenn das alles wegbricht, müssten die Dörfer heute nahezu ausgestorben sein. Trotz aller Schrumpfungsprozesse lebt aber immer noch nahezu die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland auf dem Lande – in MV sogar die große Mehrheit.

Der Wandel von einer agrarisch geprägten Landschaft mit agrarischer Bevölkerung zu einer mit nicht-agrarischer Bevölkerung macht den Kern der Neuen Ländlichkeit aus.

Um aus dieser Agrarrevolution eine Kulturrevolution werden zu lassen, sind mindestens sieben weitere Prozesse in den Blick zu nehmen.

Langfristige politische Veränderungen

1. Wir müssen langfristige politische Veränderungen uns bewusst machen. Stadtluft macht frei, hieß es früher. Wer über Jahr und Tag in der Stadt lebte, dem konnte der ländliche Grundherr nichts mehr anhaben. So war es im Mittelalter.

Für Mecklenburg prägend wurde der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich von 1755. Er verhinderte eine absolutistische Fürstenherrschaft zugunsten der alten Feudalordnung. Das liegt weit zurück, aber Wirkungen reichen nach verbreiteter Expertenmeinung bis heute – z. B. mit einem ökonomisch und kulturell schwachen Bürgertum und einer gewissen Initiativschwäche in der Gesellschaft.

Als in den 1820er Jahren die Leibeigenschaft formell abgeschafft wurde, änderten sich die Machtverhältnisse nur graduell. Das gilt besonders für die ritterschaftlichen Dörfer, die noch heute meist sofort erkennbar sind.

Alte Ländlichkeit, das bedeutete die scharfe Teilung von oben und unten, Herr und Knecht – zumal bei uns in Mecklenburg, wo das Verhältnis von Gutsherr und Landarbeiter wenig Raum für bäuerliche Romantik ließ. Landarbeit war harte körperliche Schufterei – häufig zum Vorteil derer, die im Schloss saßen. Rechte gab es wenig, selbst das Wahlrecht existierte in Mecklenburg – anders als im preußischen Vorpommern – seit 1867 nur für den Reichstag. Die beiden Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin – und -Strelitz verfügten als letzter Bundesstaat bis 1918 über eine Feudalordnung: Wer ein landtagsfähiges Gut besaß, hatte damit auch einen Sitz im gemeinsamen Landtag der beiden Großherzogtümer, der sich abwechselnd in Sternberg und Malchin traf.

Ländliches Elend können Sie im Freilichtmuseum Mueß eindrucksvoll studieren. Bildung beschränkte sich damals auf ein Minimum.

Die Bindung an die Scholle war geradezu schicksalhaft von der Wiege bis zur Bahre – wenn man nicht auswanderte, ob nun ins nahe Hamburg oder die große weite Welt. Im 19. Jahrhundert wurde Mecklenburg so neben Irland das europäische Land mit der höchsten Auswanderungsquote.

Wer vom Dorf kam, fiel mit fehlender Weltgewandtheit auf: Unschuld vom Lande, Dorftrottel, Tölpel und Bauerntrampel. Die Stadt setzte die Standards.

Für die Herrschaften auf den Gütern galt das alles nicht. Sie wussten sich schon damals im jeweils Besten der beiden Welten von Stadt und Land einzurichten.

Auf die DDR-Jahre kann ich hier nicht eingehen. Heute ist die Demokratie längst auf dem Lande angekommen, auch wenn Partizipations- und Entscheidungsräume unterschiedlich geblieben sind. Das Freiheitsversprechen der Stadt lässt sich auf dem Land möglicherweise sogar besser realisieren.

Verkehrsrevolution

2. Die Verkehrsrevolution seit dem 19. Jahrhundert hat geholfen, die Kluft zwischen Stadt und Land zu überwinden. 1847 wurde Mecklenburg durch die „Berlin-Hamburger Bahn“ mit den beiden Metropolen verbunden. Der entstehende Massenverkehr erlaubte engeren Kontakt und machte Abwanderung leichter. Aber nicht nur Abwanderung. Schon vor dem I. Weltkrieg war die Mehrheit der Mecklenburgischen Güter in bürgerlicher Hand, d.h. häufig im Besitz bürgerlicher Oberschicht aus Hamburg, Berlin oder anderen Großstädten. Sie lebten teilweise in der Stadt, teilweise – vor allem im Sommer – auf ihrem Landsitz. Die Eisenbahn machte diese frühe Form des „Zweiheimischen“ möglich.

In großherzoglichen Zeiten wurden die Kleinstädte und viele Dörfer Mecklenburgs an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Heute ist dieser Standard wie fast überall in Deutschland erodiert.

Umso wichtiger wurde das Auto seit den 1960er Jahren. Das ist unter Umweltgesichtspunkten zu beklagen. Allerdings geht es nicht nur um fehlenden ÖPNV. Das Auto steht für die freie individuelle Entscheidung, wann, mit wem und auf welchem Wege ich meinen Ort wechseln will. Die Erwartung, dass sich die Menschen in einer Gesellschaft, die den Individualismus in nie dagewesenem Maß propagiert, ausgerechnet bei der Mobilität gegen das Individuelle, für das kollektive Reisen entscheiden, ist wenig plausibel. Jedenfalls außerhalb von städtischem Verkehrsstress. Deshalb sind die Gefühle zum Diesel in der Stadt und auf dem Land so unterschiedlich.

Digitale Revolution

3. Dreh- und Angelpunkt der Neuen Ländlichkeit ist das Internet, die digitale Revolution. Ich bin überzeugt, dass die Digitalisierung bei allem, was daran zu verfluchen ist, doch auch einen Segen für das Landleben bringt. Sie emanzipiert menschheitsgeschichtlich das Land von der Stadt.

Bis vor Kurzem waren Bildung, Wissen, Kultur, politische Macht in der Stadt – und nur dort – konzentriert. Das Land war ahnungslos. Zwar wuchs schon seit den 1920er Jahren das Weltwissen in kleinen Schritten auch auf dem Land: durch Telefon, Radio, Film und seit den 1960ern durch das Fernsehen. Aber alles Wissen in Druckwerken und bei Experten blieb weiter in der Stadt verortet.

Das ändert sich mit der Digitalen Revolution. Anfang der 90er Jahre waren 3 Prozent aller Informationsspeicher digital vorhanden, heute sind es weit über 90 Prozent. Die Trennung der Informationswelten von Stadt und Land wird damit aufgehoben – wenn denn der Internetanschluss leistungsfähig ist. Was im Kommunistischen Manifest vor 170 Jahren als „Idiotismus des Landlebens“ gebrandmarkt wurde, ist verschwunden.

Das Internet auf dem Lande eröffnet völlig neue Möglichkeiten von Erwerb, Bildung, Medizin, Kultur und gesellschaftlicher Selbstorganisation. Es erweitert nicht nur Kenntnis, sondern auch Steuerung und Interaktion. Die Digitalisierung ermöglicht uns nicht nur, in jedem Dorf am globalen Wissen teilzuhaben, ortsunabhängig zu arbeiten, zu steuern, zu kontrollieren und Kontakte zu pflegen.

Wir können vom dörflichen Laptop aus Flüge von Schanghai nach Australien buchen, Aktien in Amerika kaufen, Pläne und Manuskripte global bearbeiten oder mit Teamviewer IT-Service organisieren.

Die Trennung von Wohnen und Arbeiten, die mit der Industrialisierung einherging, ist nicht länger zwingend. Kinder können dann wieder am Erwerbsleben ihrer Eltern teilhaben. Auch die Work-Life-Balance kann ganz anders aussehen, z.B. bei Sonnenschein Baden, Reiten oder im Garten arbeiten, im Dunkeln und bei schlechtem Wetter Homeoffice.

Nebenbei hat die Digitale Revolution auch die Landarbeit verändert. Aus körperlicher Schufterei wird immer mehr sitzende Tätigkeit im Führerhaus oder mit der Maushand am Computer. Arbeit auf dem Land und in der Stadt werden sich so immer ähnlicher.

Revolutionierung der Lebensstile

4. Wir erleben in rasanter Beschleunigung eine Revolutionierung der Lebensstile. Im Prozess der Individualisierung wird vieles, was früher schicksalhaft war, wählbar oder verhandelbar. Das betrifft nicht nur Arbeitsplatz, Ehe und Familie, sondern mittlerweile auch die Geschlechtszugehörigkeit.

Führte früher eine Ausbildung für die Meisten in einen lebenslang ausgeübten Beruf, ergeben sich heute Erwerbs-Patchworks, die niemand zuverlässig prognostizieren kann. Dabei geht es neben dem Einkommen immer stärker auch um „Sinn“. Für viele ist nicht die bestbezahlte, sondern diejenige Arbeit erstrebenswert, die am meisten Freude macht und ideellen Ansprüchen genügt.

Aus dem bloßen Verfassungsrecht der örtlichen Freizügigkeit werden Lebensabschnittsorte, mal hier mal da, unabhängig von „Heimat“, Herkunft und Verortung der Verwandten.

In dem Maße, wie der zivilisatorische Abgrund zwischen Stadt und Land verschwindet, gerät damit für viele Menschen auch ein ländlicher Lebensabschnitt in den Bereich des Denkbaren und Erstrebenswerten. Deshalb müssen wir wegkommen von einer zu simplen Sicht der Entscheidung pro oder contra Landleben.

Wenn Jugendliche nach dem Abitur in die Schwarmstädte ziehen, ist das nicht der Anfang vom Niedergang des Dorfes, sondern ein biografisch und sozial sinnvoller Schritt. Niemanden festhalten, sondern andere fürs Land gewinnen, muss die Devise lauten. Landleben wird zum Lebensabschnittsprojekt.

Man muss sich diese Individualisierungsprozesse allerdings genau anschauen, um tatsächliche Gewinne an Lebensqualität von neoliberaler Propaganda zu unterscheiden. Gesellschaftlich gesehen ist natürlich nicht jeder seines Glückes Schmied, sondern wir alle sind immer noch eingebunden in Bedingungen, die wir nicht frei gewählt haben.

Drehtür der Migration

5. Die Drehtür der Migration prägt unsere Neue Ländlichkeit „Das Land läuft leer“, hieß es lange. Aber so einfach ist das nicht.

1990 hatte MV rund 1,9 Millionen Einwohner. Seitdem haben wir über 1 Million Wegzüge aus MV. Gleichzeitig haben sich – mit wachsender Tendenz – 960.000 Zugewanderte hier neu angemeldet. Dabei sind Zweitwohnsitze noch gar nicht berücksichtigt. So verdanken wir den meist deutschen Binnenmigranten, dass es heute über 1,6 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner in MV gibt.

Mit der Drehtür von Zu- und Abwanderung ist MV zu einem erfolgreichen Zuwanderungsland geworden. Unsere Zuwanderung speist sich hauptsächlicher aus deutscher Wohnbevölkerung. Die Metropolen wachsen durch globale Armutsmigration, während deutsche Bevölkerung – auch Jugend – abwandert. Wohnkosten, Dichte (Parkplatznot), Konflikte und Kriminalität sowie die Krisenanfälligkeit urbaner Infrastruktur sind Stichworte dafür.

Dass davon neben unseren Städten auch die Dörfer profitieren, können Sie jeden Montagabend in den Dorfgeschichten des NDR-Nordmagazins erleben.

Diese Drehtür verändert auch die Sozialstruktur. Weniger Qualifizierte und Ärmere gehen – ganz schwache bleiben, während Gebildetere und Wohlhabendere kommen. Mit den Neubürgern aus der Stadt kommt auch ein anderes Selbstbewusstsein, ein anderer Gestaltungsanspruch an das Lebensumfeld.

Hier spielt sich etwas ab, was in städtischen Quartieren mit dem dort zu Recht negativ besetzten Begriff der Gentrifizierung belegt wird. In unseren Dörfern mit ihrem Leerstand an lokal nicht finanzierbaren Repräsentationsbauten oder -ruinen alten Glanzes ist dieser Verdrängungsprozess nicht zu erwarten. Das gilt jedenfalls für das Binnenland außerhalb der touristischen Hot Spots.

Für die alteingesessenen Landbewohner sind diese Entwicklungen nicht leicht zu verarbeiten. Unterschiedliche Erfahrungen und Weltbilder zwischen den Sesshaften und den Zugezogenen sind eine Herausforderung für gesellschaftliches und nachbarschaftliches Engagement.

Gewandeltes Naturverständnis

6. Die Neue Ländlichkeit ist nicht denkbar ohne das gewandelte Naturverständnis und -interesse. Natur meint hier nicht einfach „Wohnen im Grünen“, wie es auch für die Vorstadtsiedlung offeriert wird.

Ideengeschichtlich haben wir es mit einer grundlegenden Veränderung zu tun. Während Natur- und Denkmalschutz ursprünglich bei alten antidemokratischen Eliten auf der politischen Rechten angesiedelt war, hat sich mit den gesellschaftlichen Konflikten um Atomkraft und Umwelt seit den 1970er Jahren eine linke Naturliebe etabliert, die heute auch städtisches Denken dominiert – auch wenn sie dort manchmal seltsame Blüten treibt.

Was meine ich mit Natur in der Neuen Ländlichkeit? Zuallererst beinhaltet sie Wohnen und Leben, Arbeit und Freizeit im Grünen. Ein eigener Garten, vielleicht Tierhaltung – von der Katze über den Hund bis zu Hühnern und Schafen.

Sie umfasst aber auch, Kindern Freiraum zu geben – Freiraum im wörtlichen und übertragenen Sinne -, damit sie sich in der Natur auskennen und sich als Teil von Natur verstehen lernen. Natur heißt ebenso, alte Menschen nicht stillzulegen, sondern ihnen ein sinnerfülltes Betätigungsfeld – wieder wörtlich und übertragen – zu eröffnen.

Zu Natur gehört, möglichst die Herkunft der eigenen Nahrungsmittel vor Augen zu haben, selbst zu kochen statt Fertiggerichte aus der Truhe.
Natur in einem weiteren Sinne kann heutzutage auch die Bewahrung alter analoger und manueller Fähigkeiten umfassen, eigenes Handwerken, Recyceln und Upcyclen statt Wegwerf-Konsumismus.

Geht das nicht alles auch in der Stadt? Manches ja, aber in der Dreizimmerwohnung im fünften Stock wird es schwierig.

Kulturelle Aufladung

7. Die kulturelle Aufladung des Ländlichen ist besonders erstaunlich. Während Land und Natur sofort zusammenpassen, könnte man bei Kultur erstmal skeptisch werden. Bedeutet Landleben nicht gerade den Verzicht auf den Opern- oder Theater-Abend, das alternative Kinoprogramm oder den weltberühmten Pianisten in der Philharmonie.

Es war das Schleswig-Holstein-Musikfestival, das Mitte der 1980er Jahre die Idee ländlicher Konzerte mit Starbesetzung in Scheunen und Landschlössern zum Fliegen brachte. Eine Innovation, die zum Trendsetter wurde. Aus demselben Gründerkreis entstanden auch unsere Festspiele mit ihrem großartigen Repertoire. Aber sie sind nur ein Symptom für die neue Allianz von Kultur und Ländlichkeit.

Urbane Kultur unterscheidet sich von ländlicher Kultur. Um es zuzuspitzen: Urbane Kultur ist eher kommerzialisierter Kulturkonsum, ländliche Kultur ist eher eine Gemeinschaftsleistung, ist vertrauter und improvisierter, näher, nachbarschaftlicher. Das mögen viele.

Aktionen wie KunstOffen und Kunst Heute zeigen jedes Jahr, wie viel Künstlerinnen und Künstler aufs Land gezogen sind. Sie verlassen z.B. Berlin oder Hamburg nicht nur, weil sie hier preiswerter Raum finden. Sie schätzen auch Licht, Luft und Lebensweise, häufig mit mehr oder weniger Selbstversorgung. Und ganz besonders wichtig ist ihnen die Reizreduktion, das Runterkommen von urbaner Hektik, Nervosität und medialer Überflutung.

Und wenn man sich doch nach dem Sound der Stadt, nach Weltklasse-Auftritten oder großen akademischen Debatten sehnt? In ein bis zwei Stunden sind wir in den größten Metropolen Deutschlands.

Das Interesse von Kulturschaffenden und generell Kreativen an der Ländlichkeit ist ein ganz starker Indikator, dass Landleben im Trend liegt. Das ist wirklich revolutionär. Jahrhundertelang war die Stadt Sehnsuchtsort der Kunst. Stadt stand für Toleranz, Innovation, Kulturverständnis. All das ist heute auch auf dem Land zu finden.

Gerade auf dem Dorf haben die kulturengagierten Neubürger noch eine besondere Funktion: sie bilden den lebenden Beweis, dass auch Nonkonformismus hier gelebt werden kann.

Attraktiv für Kunstschaffende und Kreative aus der Stadt sind auch die günstigeren Immobilienpreise oder Mieten auf dem Land. Da zeigen sich wieder Ähnlichkeiten zu städtischen Gentrifizierungsprozessen.

Wenn ich Kultur als eine Säule der Neuen Ländlichkeit sehe, dann nicht nur wegen der Ansiedlung von Kulturschaffenden und eines bunten vielfältigen Kulturangebots. Dazu gehört vielmehr eine kulturelle Selbsttätigkeit, die wohl bei den meisten Menschen angelegt ist.
Ob es um Arbeiten mit Holz oder Ton, Stein oder Metall geht, ob Musik gemacht oder gemalt wird, Konzeptkunst oder Schauspiel oder selbst das SAmmlen von Kulturgut– all das ist auf dem Land meist einfacher zu realisieren als in der Stadt, wo individueller Entfaltungsraum immer teurer wird und das dichte Zusammenleben viel Rücksicht verlangt. Zudem erlebe ich das Land – im Unterschied zum Klischee – als ein Milieu, in dem es viel Anregung und Akzeptanz für verrückte Sachen aller Art gibt. Der Garten der Metropolen, in dem wir hier zwischen Hamburg und Berlin leben, entwickelt sich so zu einem idealen Ort.

Idealisiere ich hier nicht? Die Kulturrevolution der Neuen Ländlichkeit ist keineswegs abgeschlossen. Wir sind mittendrin und die Herausforderung lautet: Wir müssen das Ländliche als Siedlungsraum und Lebensweise neu erfinden.

Herausforderungen Neuer Ländlichkeit

Fünf Punkte erscheinen mir dabei zentral:

1. Die unterschiedlichen Erfahrungen, Weltsichten und Interessen von Stadt und Land in eine Balance bringen, damit nicht immer mehr AFD-Land gegen grüne Stadt steht.

2. Zu einem guten Mit- oder Nebeneinander von Landwirtschaft und nichtagrarischer Landbevölkerung kommen.

3. Mobilität, Bildung und Gesundheitsversorgung auf dem Land so entwickeln, dass die Gleichwertigkeit (nicht Gleichheit!) der Lebensbedingungen zwischen Stadt und Land gewährleistet ist.

4. Eine eigene Vision und Praxis vom Landleben mit Natur, Kultur und Digitaler Revolution entwickeln, die zukunftsgerichtet ist. Neue Ländlichkeit muss etwas anderes sein als Stadtleben auf dem Land.

5. Das bedeutet auch, Traditionen des Ländlichen wie gegenseitige Hilfe, dörfliche Nachbarschaft, die Kultur des Anpackens sowie die vielen Kompetenzen der alten Landbevölkerung in Haus und Hof, in Handwerk, Garten, Tierhaltung und Natur zu bewahren.

Ich lade Sie ein, an dieser Selbstfindung und Zukunftsvision von ländlichem Leben teilzuhaben.

Kontakt: kontakt@dr-wolf-schmidt.de

Autor Dr. Wolf Schmidt ist Sprecher des Landesnetzes der Stiftungen in MV und leitet die „Initiative Neue Ländlichkeit” in der Mecklenburger AnStiftung. Autor von „Luxus Landleben – Neue Ländlichkeit am Beispiel Mecklenburgs“

2 Gedanken zu „Von der alten zur Neuen Ländlichkeit: Eine Kulturrevolution

  1. Ein sehr treffender, außerordentlich aspektereicher und zutreffender Beitrag. Als theoretische Ergänzung/Untermauerung schlage ich die Anwendung von Johan Galtungs (norwegischer Friedensforscher) Zentrum-Peripherie – Modell auf die funktionale „In-Dienst-Nahme“ der ländlichen Peripherie durch die städtischen Zentren vor; eine Art regionaler Neo-Imperialismus mit brain drain und sinkenden Terms of Trade zulasten der Periphierie.
    If You are interested in a written contribution, do not hesitate to contact me.

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